6. Die Brotbüchse

Enno V. war in den Unter- und Obersekunda (heute: Klassen 10 und 11) unser Lateinlehrer im mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweig. Der Unterricht fand aus Raummangel im Souterrain, genauer im ehemaligen Speiseraum des (inzwischen an den Schlosspark umgezogenen) PG-Alumnats statt. Der Raum hatte seinen einzigen Eingang direkt über eine Treppe vom Hof aus.

Die Lateinstunden gab es in lediglich zwei Ausprägungen: lustlos oder lustvoll. In einer lustlosen Stunde saßen alle auf ihren Plätzen, Herr V. stand oder saß vorne und dozierte, Antworten kamen, wenn überhaupt, nur einsilbig und meist zu leise .... Was Herrn V. nicht recht war; es kam zu Ermahnungsorgien bis hin zu der Drohung: "Hier wird keiner versetzt!" oder (einmal) sogar der Androhung der Androhung des "consilium abeundi". Lustvoll waren die Stunden, in denen wir, die Schüler, der Langeweile überdrüssig waren, dem Bewegungsdrang nachgegeben werden musste oder Konflikte, die meist nur Pseudokonflikte waren) ausgetragen werden mussten.
Einer dieser Pseudokonflikte, der des Öfteren auszutragen war, wurde durch P.G.'s Brotbüchse ausgelöst. Diese, immer wohl gefüllt, weil P.G. Fahrschüler war und lange bis nach Hause brauchte, wurde kurz vor oder ganz zu Beginn der Lateinstunde entwendet und versteckt. Das Versteck war einfallslos, weil immer gleich: Es wurde eines der Fenster, die wegen der Lage der Raums im Souterrain nur etwa 20% über die Erde reichten, zu ebener Erde von einem Stahlgitter abgedeckt waren und so unten einen größeren, halbdunklen Raum bildete, geöffnet und die Büchse so weit im unteren Raum deponiert, dass jeder sie mit der Hand bequem erreichen konnte. Dann, mitten in der Stunde, bekam P.G. plötzlich (wie in fast jeder Stunde) Hunger. Ihn verlangte nach einem seiner Schulbrote, die er noch in der Dose wusste. Die Dose aber war "verschwunden"!

Zuerst wurde flüsternd nach der Dose gefragt, was Herrn V. nicht weiter störte. Dann wurde es lauter: Herr V. blickte, sich nun doch etwas gestört fühlend, um sich. Dann kamen die ersten Verdächtigungen: "Frag doch mal den Ulrich d'A., der hat vorhin gekaut!", was dieser entrüstet von sich wies. Oder: "Letztes Mal hatte sie der Ralph W:!", was, wie Alle wussten, nicht stimmte. Die Lautstärke nahm dabei immer mehr zu, so dass sich Herr V. schließlich genötigt sah, einzugreifen. Das begann mit der Mahnung: "Jetzt seien Sie aber mal bitte leise!", ging über zu "Ruuuuuuhe!!!" und gipfelte in einer Drohung wie: "Ralf L. und Thomas H. kriegen eine 'sechs' in Betragen und einen Brief an die Eltern!!!!" Irgendwann, meist erst kurz vor Ende der Lateinstunde, wurde die Brotbüchse dann "zufällig" aufgefunden, es wurde ruhiger und P.G.wurde von Herrn V. ermahnt, während des Unterrichts nicht zu essen. Während des Klingelns zum Stundenende kam dann noch die Hausaufgabe ("Lernen Sie die Vokabeln aus dem heute Gelesenen!" (Das konnten höchstens zehn sein, weil nicht mehr als drei Sätze gelesen und übersetzt worden waren.)

Übrigens, die Sechs in Betragen gab es nie, auch von einem Brief nach Hause habe ich nichts gesehen. 

 

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